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Texte 2014

Töne über Bord
Anile Tmava (14 Jahre), Berlin – Lyrik
Schritt rauf
Schritt runter
Schritt stopp.

Pausenlos

Finger tasten Tasten
über Töne
übertönen Melodie, hasten weiter über
Tonleitersprossen hin zu den
Gipfelkreuzen.

Klangwerk
statt im Rhythmus auf Schritt und Tritt und Takt
und
Musik ist nur Zeit und
es gibt Zeiten, die passen nicht auf unser Ziffernblatt.

Töne quillen über
Lippen über Bord in Meer aus Klangsubstanzen
Dissonanzen
schlagen an Buhnen und werden in Wellen
zu Meer.
Grundlos treiben sie weiter zu den
höchsten Oktaven.
Fühl es!
Lucy Gäbele (9 Jahre), Potsdam – Prosa (10-12)
Wie immer, ja wie immer. Es war alles wie immer: Morgens stand ich auf, zog mich an, frühstückte,putzte mir die Zähne, ging um 7:30 Uhr zur Schule,um 14:00 Uhr wieder von der Schule nach Hause, machte Hausaufgaben, las ein bisschen oder spielte DS, dann aß ich Abendbrot, guckte noch etwas Fernsehen oder las, danach putzte ich mir die Zähne, zog meinen Schlafanzug an und ging zu Bett. Am nächsten Morgen ging es von vorne los. Es war so seit ich denken konnte, nur als ich jünger war und noch in den Kindergarten ging, hatte ich keine Hausaufgaben auf! Aber heute änderte sich dieser ständig ablaufende und gleiche Zeitplan. Denn heute passierte etwas, was mein Leben einfach schnell und schmerzlos umkrempelte … Morgens war noch alles wie immer. Doch als ich gerade mit den Hausaufgaben anfangen wollte, fiel mir auf, wie ungewöhnlich stickig es in meinem Zimmer unter dem Dach war. Weil ich mich aber in einem stickigen Zimmer nicht konzentrieren kann, packte ich meine Schulsachen, um nach draußen zu gehen und dort zu arbeiten. Gesagt, getan. Ich lief die Treppen hinunter, durch den Flur, zur Tür hinaus und die Terrassenstufen hinab. Ich hatte es wohl etwas zu eilig, in den Garten zu kommen, denn auf der letzten Stufe trat ich versehentlich auf eine Weinbergschnecke. Die Schnecke war nun ziemlich ramponiert. Auf jeden Fall hörte ich ein zartes, aber empörtes Stimmchen sagen: »Du Rowdy, ich hatte eindeutig Vorfahrt! Mein schönes Haus. Ich habe es gerade erst renovieren lassen. Und was machst du? Trampel, trampel und mein schönes neues Haus ist kaputt. Na warte!« Ich traute meinen Augen kaum: Das Stimmchen kam tatsächlich von der Schnecke auf dem Gartenweg. Nachdem wir uns eine Weile angestarrt hatten, brummte die Schnecke ungeduldig: »Ich warte.« Ich fragte prompt: »Worauf?« Die Schnecke verdrehte die Augen: »Auf deine Entschuldigung!« Verdattert brachte ich eine Entschuldigung heraus. »So«, sagte die Schnecke, »Jetzt komme ich zu meiner Rache!« Es blitzte und rauchte, und als sich der Rauch verzogen hatte, wunderte ich mich, warum das Gras und auch die Schnecke, ja, eigentlich alles um mich herum gewachsen waren. Das Gras ragte über mich hinaus und ich war doch tatsächlich mit der Schnecke auf Augenhöhe. Die Bäume um mich herum kamen mir vor wie riesige Wolkenkratzer.
Aber, das Schlimmste kommt noch: Ich war eine Schnecke! »So«, sagte die Schnecke, »jetzt beginnt meine Rache. Ach übrigens, der Zauber hält genau 18 Stunden und 15 Minuten an. Jetzt siehst du, wie das Leben kriechen und durch das Fallrohr nach unten zu entkommen. Als ich an der Ecke angekommen war, lag über mir bereits der dunkle Nachthimmel.Vor Erschöpfung schlief ich ein. Eine Schulglocke riss mich unsanft aus meinen wirren Träumen.»Oh, Schreck«, dachte ich, »ich habe die ganze Zeit hier geschlafen.« Was hatte die Schnecke doch gesagt? Ach ja genau,der Zauber würde 18 Stunden und 15 Minuten anhalten. Was, wenn ich mich nun in diesem Rohr wieder in einen Menschen verwandeln würde? Keine schöne
Vorstellung. Also, raus hier, aber schnellstmöglich! Als ich wieder festen Boden unter meiner Schleimspur hatte, merkte ich erst, wo ich war: Auf dem Pausenhof meiner Schule! Und als ich mich gerade auf den Weg zur Schultür machen wollte, war ich wie aus dem Nichts wieder ich. Sogar meine Schulsachen hatte ich in der Hand, denn die hatte ich ja in den Garten mitgenommen. Ich rannte in meine Klasse. Kaum saß ich auf meinem Platz, fragte mein Lehrer: »Du bist heute Morgen 45 Minuten zu spät! Wo warst du?« Ich antwortete: »Erst habe ich nicht auf eine Schnecke in unserem Garten geachtet, dann habe ich ums nackte Überleben gekämpft und schließlich in einer Regenrinne geschlafen.« »So ein Quatsch. Setzen!«
Lampedusa
Amelie Schmid (14 Jahre), Regensburg – Prosa (13-15)
Jeder steht dicht an dicht, ich weiß nicht, wie viele wir sind, jedenfalls mehr als morgens am Brunnen in meinem Dorf, und ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist. Es ist nur ein kleiner Bruchteil aller Menschen auf der Welt, aber mehr, als ich ertragen kann. Dad betet schon die ganze Zeit. »Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.« Der Vater, das ist er, der Sohn, das bin ich, und der Heilige Geist ist zu Hause geblieben, hat das Geld nicht bezahlen können. Für ihn wird keine Ausnahme gemacht. Es riecht nach Salz, einerseits der salzige Wind und das Meer, andererseits der Schweiß der Leute um mich herum, die so eng beieinander stehen, dass sie fast zusammenschmelzen. Ein paar reden durcheinander, machen in fremden Dialekten, manche auch in meiner Sprache, aber ich kann mich nicht darauf konzentrieren, was gesagt wird. Das Wasser glitzert ein wenig, und ich überlege ob man es nicht in kleine Flaschen füllen könnte und als Schmuck verkauft, an die Leute in Europa – Europa, was so ähnlich klingt wie Himmel oder Paradies, na ja, zumindest besser als Zuhause, dort wo nicht mehr mein Zuhause ist. Dieses Boot ist meine erste Stufe in eine neue Welt,ein Aufstieg in eine neue Geschichte. Ich sehe nur den Rücken von meinem Vordermann und darüber einen dünnen Streifen – das Meer – wie eine Verheißung. »Heilige Maria Mutter Gottes«, sagt Dad. Ob ich auch beten sollte? Wie war das nochmal, »gebändigt sei die Frucht.« Was für eine Frucht überhaupt? Mir läuft es im Mund zusammen, aber ich weiß, heute gibt es nichts mehr. Es schaukelt leicht hin und her, es weckt ein Gefühl in mir, eine Erinnerung, die schon längst erloschen sein sollte. Muss ich jetzt traurig sein? Eigentlich ist mir eher langweilig. Europa … Wann erscheint es endlich am Horizont? »Dein Reich komme«, das Reich, das kommt, ist hoffentlich gut, und das Boot schaukelt hin und her und die Menschen darauf auch, und sie sind so klein auf diesem großen Meer, und ich bin fast der Kleinste von ihnen. »In Ewigkeit Amen.« Ewigkeit, was ist das? Und fahren wir schon so lange oder länger? Es kommt mir so vor, als kämen wir nicht voran. Ich wende meinen Kopf zum Himmel und suche angestrengt nach Engeln. Alles, was ich entdecken kann, ist ein Flugzeug. Der Heilige Geist ist Zuhause geblieben. Ich habe das Gefühl, ich bin zu klein, sodass er mich nicht sehen kann.
Seitdem
Mercedes Spannagel (18 Jahre), Wien – Prosa (16-18)
I
»Trifft der Goldfisch im Vorfeld die Entscheidung, in welche Richtung er sich als nächstes wendet?« fragt Knolle und klopft an die Scheibe. Der Goldfisch schwimmt unbeirrt vor sich hin. »Brutus?« fragt Fricke. Aber die Frage ist überflüssig, weil es in dem Aquarium nur einen Goldfisch gibt. Knolle klopft und Fricke sagt: »Ich denke nicht.« »Der glotzt so hässlich«, sagt Knolle und setzt sich u Fricke aufs Bett, mit dem Rücken zum Aquarium. Auf der Bettdecke sind konzentrische Kreise. Knolle mag sie nicht, der Stoff mache dumm im Kopf, sagt er manchmal, wenn er mit Fricke auf dessen Bett sitzt. »Hier bist du auch mit ihr gesessen«, das sagt Knolle auch öfter und Fricke nickt dann. »Seitdem nicht mehr«, meint Fricke und zieht unter seinem Bett eine Kiste hervor. Er entnimmt ihr eine Wodkaflasche. »Hast du auch Bier?« fragt Knolle. Fricke schüttelt den Kopf: »Davon wird man nicht so schnell betrunken.« Fricke öffnet die Flasche und reicht sie Knolle. »Du hast den ersten Schluck«, sagt er. Knolle nimmt die Flasche und sett sie an seine Lippen, trinkt, verzieht das Gesicht. »Du triffst dich nicht mehr mit Saba?« Fricke zuckt mit den Schultern: »Manchmal sehen wir uns in der Schule. Manchmal sprechen wir über das Wetter und wie es uns so geht.« Knolle meint: »Lina hat jetzt nur mehr grüne Freunde. Sie war ja bereits damals bei den Jungen Grünen dabei, weißt du noch?« Fricke sieht zum Aquarium: »Sprechen wir nicht mehr darüber.« Knolle bestätigt: »Ja, sprechen wir nicht mehr darüber.« Sie trinken. »Findest du mich lethargisch?«, fragt Fricke. Knolle sieht ihn an und sagt nichts. »Meine Mutter meint das nämlich«, sagt Fricke. »Du bist wenigstens in der Schule nicht sitzengeblieben. « Knolle trinkt. Sie schweigen. Brutus schwimmt im Aquarium.Weißt du noch: Die Dornen haben uns jedes Mal gestochen, als wir uns durch die Büsche zu den Schienen gezwängt haben, obwohl du einmal den guten Einfall hattest, den Weg ein wenig freizulegen. Das Buschmesser von deinem Vater«, Fricke lacht. Knolle lacht auch: »Saba hat die Fahrpläne aller Züge auswendig gewusst.« Fricke macht »hm«. »Du hast sie deswegen gefragt, ob sie mit dir ausgeht «, Knolle lacht. Fricke sagt: »Hör auf!« Knolle lacht immer noch: »Sie hat dich lächerlich gefunden.« Fricke wiederholt: »Hör doch auf!« Fricke trinkt, er lehnt sich an die Wand, Knolle stellt fest: »Dein Gesicht hat dieselbe Farbe wie die Tapete.« Fricke sagt ohne Knolle anzusehen: »Aber sie hat mich schon gemocht.« »Noch eine halbe Flasche«, Knolle sieht in die klare Flüssigkeit. »Es war vielleicht nicht Liebe«, meint Fricke. »Wahrscheinlich«, sagt Knolle.

II
»Warum wir nicht mehr draußen spielen würden, fragt meine Mutter«, Fricke lacht. Knolle kaut auf dem Wort »spielen« wie auf einem Kaugummi. Fricke sagt: »Wir sind zu alt zum Spielen, meinst du nicht auch, meinst du schon, oder?« Knolle wiederholt »zu alt« und sieht Brutus nach, wie er sich im Wasser bewegt. »Wir müssen uns sicher sein«, sagt Fricke. »Wessen Schuld war es?«, fragt Knolle. Fricke stellt sich neben ihn: »Wieso sprichst du von Schuld?« »Na, wessen Schuld war es, dass wir an diesem Tag zu den Gleisen gegangen sind?« Fricke sagt ihm ins Ohr: »Hör auf.« Knolle wendet sich ab: »Ja, sprechen wir nicht mehr darüber.« Fricke sagt in die Stille: »Ich träume schlecht.« Knolle zuckt mit den Schultern, es sei bestimmt die Bettdecke, ihm werde da auch immer übel. Fricke sagt: »Wir suchen immer Gründe.« Knolle sagt: »Wir suchen Gründe, um ihnen glauben zu können.«

III
»Was ist mit dem Fisch passiert?«, fragt Knolle. Fricke sagt: »Er nimmt ein Sonnenbad.« Knolle meint: »Ich glaube, ich sehe seine Eingeweide durch den dünnen Bauch.« Er lacht: »Fricke! Pass auf, dass er keinen Sonnenbrand bekommt!« Fricke hält ihm eine Wasserflasche hin. »Wasser?«, fragt Knolle, »bin ich denn ein Fisch?« Fricke lächelt und erklärt dann ohne Lächeln: »Ich habe Angst, dass meine Mutter etwas bemerkt. Sie meint sowieso, dass ich mich verändert habe.« »Was sagst du ihr?« »Ich sage ihr, es wäre wegen Saba. Ich sage ihr, es wäre ugendlicher Liebeskummer. Trennungsschmerz, verstehst du?«, sagt Fricke, aber Knolle sieht nicht so aus, als würde er verstehen. Er hat diesen Blick verloren. »Es darf keiner wissen«, sagt Fricke. »Du hast recht«, sagt Knolle. Fricke lacht: »Komisch schon; ich habe das Gefühl, dass ich auf einer Stufe stehe und nicht weiterkann, dabei ist das, was wir gesehen haben, nicht so abartig. Ich meine, die Welt ist gewaltverherrlichend, deswegen ist es nicht so abartig.« Knolle sieht Fricke lange an und fragt dann: »Warum haben wir nie etwas gesagt?« Fricke sagt: »Ja, warum?«

IV
Knolle sieht zu dem Aquarium. »Es ist leer«, sagt er. Fricke nickt. »Ich habe Brutus das Klo hinuntergespült. « Knolle nickt auch. »Ist gut. Der hat einfach immer zu viel geglotzt.« »Ja«, sagt Fricke, »die letzten Tage ist er nur mehr auf dem Rücken an der Oberfläche getrieben.« Knolle zieht die Nase hoch. »Der weiße Bauch war an der Luft und ich habe ihn angestoßen, aber bei ihm war einfach die Luft raus«, erzählt Fricke Knolle. »Dieser weiße Bauch hat echt abstoßend gewirkt«, meint Fricke. »Sicher mehr als sein Glotzen«, versichert er Knolle. Knolle meint: »Es war sicher nicht mit Absicht. Ein Unfall.«

V
Der Fisch in blauen Arbeiterhosen platzt auf und die Eingeweide liegen neben ihm. Da ist viel Blut. Vielleicht hat er den Fahrplan nicht gekannt. Sie sind wie Fische, ihre Augen schauen und schauen, aber bevor sie die Bilder in ihren Köpfen verarbeitet haben, haben sie sie wieder vergessen. Sie sind durch das Verdrängen zu Fischen geworden, sie schwimmen um des Schwimmens Willen, sie schauen, weil sie müssen, aber sie sprechen nicht darüber, sie haben es nie getan